Das folgende Video stellt die einzig mir vorliegende filmische Quelle bezüglich des Übertritts der deutsch-französischen Grenze zwischen 1871 und 1914 dar. Dieses im
Institut National de l'Audiovisuel (INA) aufbewahrte Dokument ist ein drei-minütiger, stummer Schwarz-Weiß-Film, der zwischen 1907 und 1914 von einem deutschen – vermutlich aus dem Elsass stammenden (Kap. 5) – Touristen gedreht wurde. Der Film besteht aus fünf Teilen und zeigt eine im Sommer durchgeführte Reise von Munster nach Gérardmer über den Pass der Schlucht und den Gipfel des Hohneck – d.h. über ein touristisches Ziel, an dem die deutsch-französische Grenze verläuft.
Im ersten Teil – „Abfahrt von Munster nach der Schlucht“ – beginnt die Reise in der Munsterschluchtbahn. So hieß die kleine elektrifizierte Eisenbahnlinie, die Munster mit dem Pass der Schlucht verbindet. In diesem Teil sind zum Wandern ausgerüstete Touristen zu sehen, die mit der Straßenbahn fahren, im Wald spazieren, oder der Straße folgen, die zum Pass führt. Nach der Haltestelle Alternberg übernimmt eine Zahnradbahn. Daraufhin stellt der Film „Deutschlands höchst gelegene Eisenbahn“, wie ein damaliges Werbeplakat es verkündet, in den Vordergrund. Nach dem Krappenfels-Tunnel entdeckt man das Chalet Hartmann, ein Hotel, das vor dem Anschluss Elsaß-Lothringens an das Deutsche Reich an einem Osthang der Vogesen aufgebaut wurde. Bei der Ankunft auf dem Pass sehen wir Autos und andere Fahrzeuge. Sie befördern die zahlreichen Touristen aus Frankreich, Deutschland und anderen Ländern, die den Aufstieg zum Hohneck unternehmen möchten (Kap. 6).
Der zweite Teil des Films, „Felspartien bei der Schlucht (deutsche Seite)“ betitelt, zeigt einige Bilder des Gebirges, wie man es von der deutsche Grenzseite aus sehen kann. Neben einer vom Vogesenclub (Kap. 6) aufgestellten Bank am Fuß des „Roche du Chameau“, spielt ein Mann Drehorgel, um die Touristen zu unterhalten.
Die Schlucht wurde nach 1871 zum Grenzpass, und dieser Tatsache wird im dritten Teil, „Deutsch-französische Grenze bei der Schlucht (1139 Meter ü. d. M.). Zollämter“, ein besonderes Augenmerk geschenkt. Eine Aufnahme zentriert auf den deutschen, über 1139 Meereshöhe stehenden Grenzpfosten, der für die Franzosen die Annexion der „verlorenen Provinzen“ versinnbildlicht. Ca. 3 Meter hoch, mit dem Reichsadler auf rot gerahmtem weißem Hintergrund versehen, proklamiert der Pfosten die deutsche Souveränität: „Deutsches Reich“. Tausende solcher Pfosten wurden von deutschen Behörden ab 1889 (s. Kap. 2) aufgestellt. Im Film hält ein deutscher Polizeibeamter eine Touristengruppe an, welche die Grenze passieren möchte, während Zollbeamte einige Formalitäten erledigen. Auf der anderen Seite wird das Rad eines Touristen von zwei französischen Zollbeamten überprüft. In dieser Hinsicht ist dieses Dokument einzigartig: es handelt sich nämlich um die einzige filmische Quelle, die die Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze dokumentiert (Kap. 4).
Leider wurde der Aufstieg zum Hohneck nicht gefilmt. Dennoch stellt die Landschaft des Gipfels den Höhepunkt des vierten Teils – „Auf der Spitze vom Hohneck (1361 Meter ü. d. M.)“ - dar. Auf 1361 Metern angekommen suchen die Touristen Postkarten aus, die sie in der von Philippe Bernez geleiteten Herberge kaufen, um ihr Erlebnis zu teilen. Zudem können sie den Blick von der Orientierungstafel aus genießen, die vom Club Alpin Français (der französische Alpenverein) aufgestellt wurde – das Hohneck befindet sich nämlich zum größten Teil auf französischem Hoheitsgebiet. Vom Gipfel aus lässt sich bei schönem Wetter die ganze elsässische Ebene (Kap. 6) überblicken.
Der letzte Teil – „Nach Gérardmer (auf der französischen Seite). Umsteigen. Der nächste Zug wartet schon“ – folgt der Straßenbahnfahrt vom Hohneck nach Gérardmer. Diese Eisenbahnstrecke verbindet die beiden Orte über Retournemer und die Schlucht. Bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges bestand keine Eisenbahnverbindung zwischen beiden Seiten der Vogesen: die Endstation der jeweiligen Linie befand sich an der Grenze. Nachdem die Touristen den Pass der Schlucht und das Hohneck über den Osthang bestiegen haben, gehen oder fahren sie mit dem Auto oder der Straßenbahn über den Westhang nach Gérardmer hinunter. Gérardmer, eine Kur- und Urlaubsstadt, hatte sich unlängst für die damals entstehenden Wintersporte geöffnet (Kap. 6).
In jeder Hinsicht ist dieser Film ein außergewöhnliches Dokument, das einen direkten Einstieg in die innerhalb meiner Doktorarbeit untersuchten Fragestellungen der Souveränitäts- und Nationalidentitätskonstruktion durch lokale Akteure ermöglicht. Es verbildlicht mehrere konkrete Erfahrungen des Grenzübertritts, die Erlebnisse von Individuen, die gerade nicht für die deutschen oder französischen Behörden arbeiten.